Expertenmeinung

Anfällig, aber nicht überaltert

Lesedauer: 6 Min
Zu Beginn und gegen Ende des Konjunktur- und Marktzyklus suchen Anleger mehr als sonst Orientierung. Aktuell fällt dies jedoch besonders schwer. Dennoch lassen sich wichtige Rückschlüsse für die Positionierung ableiten.

Die US-Wirtschaft befindet sich in ihrem längsten Aufschwung, der Aktienmarkt in seinem zweitlängsten. Auch wenn Konjunktur- und Investment-Zyklus nicht immer parallel zueinander verlaufen, derzeit haben sie doch einiges gemeinsam. Mit zunehmender Dauer der Expansion steigt das Bedürfnis der Anleger nach Orientierung.

 

«Investment Clock» verspricht Orientierung

Hilfe bietet hier die «Investment Clock». Sie teilt den Marktzyklus in vier unterschiedliche Phasen (vgl. Grafik) ein. Am Beginn steht jeweils eine Rezession. Der Rückgang der Wirtschaftsleistung führt an den Finanzmärkten zu hoher Unsicherheit und zu Verlusten. Die Notenbanken reagieren mit einer expansiven Geldpolitik. Greift dieser Stimulus, so folgt die Erholungsphase. Um den zarten Aufschwung noch weiter zu stützen, halten die Notenbanken die Zinsen zunächst niedrig. An den Finanzmärkten steigen die Aktienkurse, die Kreditaufschläge fallen und die Anleihenrenditen ziehen wieder an. Gewinnt der Aufschwung an Breite und Tiefe, stellt sich ein Boom ein. Die Aktienmärkte legen weiter zu, während Unternehmensanleihen bereits Gegenwind spüren. Um ein Überhitzen der Wirtschaft zu vermeiden, wird die Geldpolitik gestrafft.

Im Fokus

So einfach und klar das Konzept der «Investment Clock» auch ist, es hat einen entscheidenden Nachteil: Es beschreibt einen idealtypischen Zyklusverlauf, den es in Realität so nicht gibt. Zwar bleibt die Abfolge der Phasen gleich, doch die Standortbestimmung kann nicht eindeutig vorgenommen werden. So ist derzeit zum Beispiel die Geldpolitik weiterhin expansiv, obwohl die Aktienmärkte bereits seit gut zehn Jahren haussieren. Trotz dieser Limitationen sollten Anleger bei grundlegenden Anlageentscheiden die «Investment Clock» im Hinterkopf behalten.

 

Naht das Ende des Zyklus?

Das Konzept bietet Orientierung und ermöglicht eine Standortbestimmung. Allerdings beschreibt es nur und gibt keinen direkten Aufschluss darüber, ob und wann der Übergang in die nächste Phase ansteht, sei es aus konjunktureller Sicht oder auch mit Bezug auf die Ausrichtung des Portfolios. Nach einer rekordlangen, 120 Monate dauernden Expansion bestehen wenig Zweifel, dass der amerikanische Konjunkturaufschwung alt geworden ist. Aber allein deswegen gibt es noch lange keine Rezession. Für eine Rezession gibt es unterschiedliche Auslöser. Die meisten lassen sich in drei Kategorien einteilen, wobei oftmals eine Kombination aus mehreren Ursachen zu einem Abschwung führt:

  • Unternehmen investieren zu viel, dadurch sinken die Renditen, es passieren Fehlallokationen
  • Die Geld- und Fiskalpolitik wird abrupt verändert, etwa wegen der Inflation
  • Es kommt zu Exzessen wegen hohen Bewertungen von Finanzanlagen oder der grossen Schuldenlast als Folge einer zu lockeren Geldpolitik

Auf Basis dieser Kriterien zeigen sich – angesichts des lang anhaltenden Aufschwungs – erstaunlich wenige unmittelbare Bedenken. Die Investitionstätigkeit ist verhalten, der fehlende Inflationsdruck macht die Geldpolitik vorhersehbar und die Aktienmarktbewertungen sind nicht exzessiv. Einzig das hohe Schuldenniveau von Staaten und zunehmend von Unternehmen stimmt vorsichtig. Die milden «Alterserscheinungen » dürften wohl dem Umstand geschuldet sein, dass die Erholung in den USA mit durchschnittlich 2.3 % Bruttoinlandprodukt-Zuwachs p.a. so schwach ausfällt wie noch nie in der Nachkriegsgeschichte. Ein Risiko für den Zyklus ist ein externer Schock, der zu einem Einbruch an den Märkten und/oder zu einer Rezession führt. Per Definition sind solche Schocks nicht vorhersehbar. Doch haben geopolitische Risiken zugenommen, erwähnt seien nur Handelskonflikte, Brexit oder Iran. Gleichzeitig hat sich bei den Anlegern ein gewisser Gewöhnungseffekt bezüglich der Unsicherheiten eingestellt, der sie abgestumpft hat. Somit ist das negative Überraschungspotenzial bzw. das Schockrisiko gestiegen.

 

Widersprüchliche Signale der Finanzmärkte

Bei der Orientierung im Zyklus helfen auch die Märkte nicht. Sie senden höchst unterschiedliche oder zumindest erklärungsbedürftige Signale, woran hauptsächlich die Geldpolitik schuld ist. Die Notenbanken bedienen sich verschiedener Instrumente, um den Konjunkturzyklus zu steuern. Bisher unterscheidet sich der gegenwärtige Kurs von früheren Phasen vor allem durch das lange Beibehalten der lockeren Geldpolitik. Von den grossen Notenbanken gelang es einzig dem amerikanischen Fed, die Normalisierung voranzutreiben. Die Europäische Zentralbank (EZB) und die Bank of Japan, letztere allerdings schon länger, operieren weiterhin im Krisenmodus. Ebenso ungewöhnlich ist die Bereitschaft der Fed, die Zinsen zu senken, sofern es erforderlich wäre. Der Markt geht, auch durch diese Unterstützung, fest davon aus, dass Zinssenkungen folgen. Doch dies dürfte nur dann passieren, wenn sich die US-Wirtschaft deutlich abschwächt. Dass der Aktienmarkt die potenzielle Lockerung feiert und die Abkühlung gelassen nimmt, zeigt den festen Glauben an das Gelingen eines «Soft Landings». Die temporäre globale Konjunkturschwäche wäre in diesem Fall lediglich eine Delle, die aber die gegenwärtige Expansion nicht gefährdet.

Der Anleihenmarkt teilt das optimistische Bild der Börsen aber nicht. Ganz im Gegenteil: Die langfristigen Renditen der Staatsanleihen sind unter die kurzfristigen Sätze gefallen. Viele Marktteilnehmer beunruhigt dies, ging doch in den USA jeder Rezession solch eine Invertierung der Zinsstrukturkurve voraus. Genau genommen zeigt aber selbst diese Zinskonstellation auch nicht das unmittelbar bevorstehende Zyklusende an, denn in der Vergangenheit vergingen jeweils noch rund zwei Jahre, bis es so weit war.

Offenkundig ist die Diskrepanz zwischen dem Anleihen- und dem Aktienmarkt auch, wenn man deren diesjährige Entwicklung betrachtet. Der Aktienmarkt konnte trotz Flaute des Gewinnwachstums zweistellig zulegen. Die Anleihenrenditen hingegen sind auf Mehrjahres- oder gar Allzeittiefs gefallen. Dies gilt als Warnsignal, da eine enge Beziehung zwischen Wachstum und Renditen besteht. Optimisten führen die gegenwärtige Diskrepanz auf die unterschiedlichen Treiber zurück. Während der Aktienmarkt vom realen globalen Wachstum angetrieben wird, bestimmen die Inflationserwartungen den US-Anleihenmarkt. Allerdings ist auch das Kredit-Segment skeptischer als der Aktienmarkt. Die Risikoaufschläge von Unternehmensanleihen steigen seit gut einem Jahr sukzessive und zeigen somit eher das Ende der Expansion an als der Aktienmarkt, der sich etwa in den USA immer noch auf dem Niveau des Allzeithochs befindet.

 

Erschwerte Standortbestimmung

Sowohl der Konjunktur- wie auch der Finanzzyklus sind weit fortgeschritten. Obwohl es aus fundamentaler Sicht wenig Anzeichen für ein unmittelbar bevorstehendes Ende gibt, so senden die Märkte derzeit doch einige unklare und widersprüchliche Signale. Anleger sollten sich nicht in falscher Sicherheit wägen: Auch wenn die letzte Krise zehn Jahre her ist, die damals ergriffenen Massnahmen zu ihrer Bewältigung wirken weiterhin nach oder sind wie im Falle Europas immer noch in Gebrauch. Bisher etablierte Konzepte wie die «Investment Clock», aber auch viele Indikatoren sind verzerrt. Ausserdem wirken übergeordnete Mechanismen wie beispielsweise der demografische Wandel auf Preise, Nachfrage und Produktivität. Zusätzlich droht eine De-Globalisierung, welche in den letzten Jahrzehnten die Wirtschaftspolitik und das Handeln der meisten Unternehmen geprägt hat.

Für spätzyklische Phasen ist es typisch, dass die Risiken zunehmen. In der Vergangenheit hat es sich ausbezahlt, in diesen Phasen investiert zu sein, denn die Anleger wurden stattlich entlohnt. So konnte der US-Aktienmarkt in den vergangenen 24 Monaten vor dem Ende eines Bullenmarktes durchschnittlich 39 % zulegen. In den letzten 12 waren es 27 %. Folglich sehen wir derzeit auch keine Veranlassung, sich aus dem Markt zurückzuziehen. Allerdings sollten Anleger sich gezielt positionieren:

  • Die Verschuldungszunahme und das hohe Wachstum in bonitätsschwachen Segmenten machen den Kreditmarkt verletzlich, auch wenn die tiefen Renditen vorerst stützen. Vor allem bei Unternehmensanleihen schlechter Bonitäten raten wir zur Zurückhaltung – entweder sind die Risiken zu hoch oder die Entschädigungen zu gering.
  • Deutlich besser sind die Aussichten für Aktien im Spätzyklus. Allerdings erscheint uns angesichts der stattlichen Gewinne und der Konjunkturschwäche Gelassenheit nicht gerechtfertigt, weshalb wir zu einer vorsichtigen Positionierung raten.
  • Staatsanleihen haben sich in der Vergangenheit als guter Portfolio-Stabilisator erwiesen. Aufgrund des diesjährigen Rückgangs und der absolut tiefen Niveaus bevorzugen wir andere diversifizierende Anlagen.
  • Anleger sollten in der fortgeschrittenen Marktphase darauf achten, nicht zu viele Risiken im Portfolio zu haben. Dies gilt insbesondere für zyklische Anlagen. Gold, marktunabhängige Hedgefondsstrategien oder auch verbriefte Katastrophenanleihen empfehlen sich.
  • Gerade Einzeltitel bergen in reifen Märkten häufig ein hohes Enttäuschungspotenzial in sich. Unternehmensspezifische Risiken werden unter- und das Wachstum überschätzt. Diese Papiere sind oftmals besonders korrekturanfällig.

 

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Autor: Bernd Hartmann, Chefstratege der VP Bank

Dieser Beitrag ist der Auftakt der vierteljährlichen Publikation «Investment Views».


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