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Boris Johnson forciert harten Brexit

Lesedauer: 7 Min
Die Furcht vor einem harten Brexit wächst. Der neue britische Premierminister Boris Johnson zeigt sich gegenüber der Europäischen Union kompromisslos und droht mit einem Austritt ohne Abkommen. Doch das britische Parlament hat sich bereits in der Vergangenheit gegen solch ein drastisches Szenario ausgesprochen. Für den Regierungschef ist deshalb die Situation ebenso schwierig wie für dessen Vorgängerin Theresa May. Nach wie vor bleibt die Aussicht auf einen weichen Brexit, der das Pfund stärken würde, bestehen.

Die Übernahme der Amtsgeschäfte durch Boris Johnson hat das britische Pfund auf Talfahrt geschickt. Die Angst vor einem harten Brexit, das heisst, einem Ausscheiden aus der EU ohne Abkommen, ist demnach auch an den Finanzmärkten gross. Der neue Regierungschef und Parteivorsitzende der konservativen Partei (Tories) möchte das Vereinigte Königreich nach Ende der Austrittsfrist am 31. Oktober ohne neuerliche Verlängerung aus der EU führen, mit oder ohne Vertrag. Doch ganz so einfach ist es nicht. Das britische Unterhaus hat sich bereits unter Johnsons Vorgängerin gegen einen abrupten Abbruch der Beziehungen zum europäischen Festland gewehrt.

Die Ausgangslage ist für den neuen Premierminister ähnlich verzwickt, wie für Theresa May. Folgende Szenarien sind für Grossbritanniens Zukunft denkbar.


1. Harter Brexit

Selbst der vermeintlich einfache harte Brexit ist für Johnson nicht ohne weiteres durchsetzbar. Erst im März hat das Parlament gegen einen Austritt ohne Vertrag gestimmt. Zwar entfaltet diese Abstimmung keine bindende Wirkung. Doch das Parlament hat den Prozess massgeblich beeinflusst, und könnte wie schon im Frühling eine neuerliche Fristverlängerung erzwingen. Denn an der politischen Konstellation hat sich nichts verändert: Johnson führt immer noch eine Minderheitsregierung unter Duldung der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) an. Und seine eigene Partei ist punkto hartem Brexit gespalten. Das Parlament hält also in essenziellen Fragen den Taktstock in der Hand.

Um den unliebsamen Abstimmungen aus dem Weg zu gehen, könnte der Regierungschef das Unterhaus im Zeitraum von Ende Oktober bis Anfang November in eine Zwangspause entlassen. Allerdings erschwerten die Abgeordneten diesen Schritt per Zusatz zum Austrittsgesetz. Johnson würde auch die Unterschrift der Queen benötigen. Damit müsste aber Königin Elisabeth II. indirekt politisch Stellung beziehen. Die Frage ist, ob der Premierminister das Könighaus tatsächlich in diese missliche Situation bringen möchte. Darüber hinaus könnte eine vom Premierminister angeordnete Pause auch als Affront gegen die britische Demokratie aufgefasst werden. Sobald das Parlament wieder tagt, sähe sich Johnson dann wohl mit einem Misstrauensvotum konfrontiert. Dieses würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit verlieren.


2. Anpassung des Austrittsabkommens und/oder Verlängerung der Austrittsfrist

Premierminister Johnson lehnt derzeit Gespräche mit der EU ab, denn Brüssel signalisierte bereits, dass es keine grundlegenden Änderungen am ausgehandelten Austrittsabkommen geben wird. Der britische Regierungschef beisst mit seiner Forderungen nach einem neuen Vertrag bei den EU-Staaten auf Granit. Doch so hart sich beide Seiten geben, mit näher rückender Austrittsfrist könnte die Nervosität steigen und Verhandlungen wieder aufgenommen werden. Noch immer ist der sogenannte «Backstop» der Knackpunkt für eine Ratifizierung durch das britische Parlament. Demnach bliebe Grossbritannien solange den Binnenmarkts- und Zoll-Regeln der EU unterworfen, solange keine Vereinbarung über die zukünftigen Beziehungen zwischen den Vertragsparteien gefunden wäre. Damit soll eine harte Aussengrenze der EU zwischen Irland und Nordirland verhindert werden. Die EU könnte aber mit Grossbritannien vereinbaren, dass im Falle des Nichtzustandekommens eines Vertrages eine sogenannte «Smart Border» errichtet wird. Dabei würden moderne technische Mittel zum Einsatz kommen, um eine harte Grenze auf der grünen Insel zu verhindern. Zeichnet sich die Wiederaufnahme von Gesprächen ab, könnte aufgrund des Zeitmangels zunächst eine weitere Verschiebung der Austrittsfrist beschlossen werden. Letzteres ist ohnehin als Zwischenlösung die naheliegendste Option, unabhängig davon ob es nun zu weiteren Verhandlungen kommt oder nicht.

 

3. Neuwahlen

Die konservative Partei hat in den vergangenen Monaten Stimmen an die erst 2019 gegründete Brexit-Partei von Nigel Farage verloren. Gemäss Wählerbefragungen war die EU-feindliche Partei für kurze Zeit einmal sogar die beliebteste Partei. Doch die scharfe Rhetorik von Boris Johnson gegenüber Brüssel holt aktuell die verlorengegangenen Stimmen wieder zurück – das zeigt der jüngste Meinungstrend. Damit sind die Tories mit rund 30 % Zustimmung wieder stärkste Kraft im Königreich. Johnson könnte jetzt den Stimmungsauftrieb für vorzeitige Neuwahlen nutzen und sich von der Wählerschaft ein offizielles Mandat für einen harten Brexit holen. Allerdings ist für eine regierungsfähige Mehrheit eine Koalition notwendig. Die übrigen relevanten Parteien sind weitgehend pro-europäisch eingestellt. Somit steht Johnson mit seiner harten Linie gegen-über dem europäischen Festland weitgehend alleine da. Würde nun die zweitgrösste Partei, die Labour-Partei, die Wahl gewinnen, könnte sie mit EU-freundlichen Parteien koalieren und käme auf eine deutliche Mehrheit. Jüngste Umfragen zeigen, dass sich im Falle eines Rücktritts von Arbeiterparteichef Jeremy Corbyn, die Kräfteverhältnisse nochmals deutlich verschieben könnten. Demnach wäre Labour die stärkste Kraft. Erste Labour-Abgeordnete liebäugeln deshalb mit einem Sturz des Parteivorsitzenden. Bei Neuwahlen kann der Schuss also auch nach hinten losgehen, wie es Johnsons Vorgängerin erlebt hatte. Diese Option dürfte deshalb nicht zu seiner bevorzugten gehören. Gibt es keine Lösung im Brexit-Prozess führt an einem vorzeitigen Urnengang dennoch kein Weg vorbei.


4. Ausscheiden aus der EU mit einer Übergangslösung

Scheidet Grossbritannien ungeregelt aus der EU aus, könnte als Interimslösung auf Artikel 24, Paragraf 5 des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens der Welthandelsorganisation WTO zurückgegriffen werden. Der Passus sieht vor, dass Länder, die sich in Verhandlungen über Freihandelsabkommen befinden, Handelserleichterungen bereits für bis zu zehn Jahre provisorisch anwenden können, bevor das finale Abkommen geschlossen ist. Da Boris Johnson auch bei einem harten Brexit auf ein neues Handelsabkommen mit der EU setzt, wäre Artikel 24 eine Möglichkeit, den Status quo aufrechtzuerhalten. Allerdings bedarf es eines Basisabkommens, um in den Genuss von Zollerleichterungen zu kommen. Im Falle eines No-Deals, in dem keinerlei Vereinbarungen getroffen wurden, würde Artikel 24 nicht greifen. Die WTO hat deshalb vorsorglich die Notwendigkeit einer vorausgehenden Einigung hervorgehoben. Darüber hinaus müssen die übrigen WTO-Mitglieder überzeugt sein, dass die Verhandlungen ernsthaft vorangetrieben werden – sonst können sie Änderungen fordern. Aus diesem Grund hat seit 1995 kein Land mehr von dem Interimsabkommen Gebrauch gemacht. Von einer Zwischenlösung ist demnach wohl kaum auszugehen, auch wenn Boris Johnson gerne auf diese Möglichkeit verweist.

 

5. Neues Brexit-Referendum

Ein zweites Referendum lehnt die neue Regierung ab. Deshalb gehört eine neuerliche Volksabstimmung nicht zu den unmittelbaren Lösungsansätzen. Je festgefahrener die Situation aber wird, desto wahrscheinlicher wird auch eine zweite Befragung des Volkes werden – auch unter Boris Johnson.

 

Und jetzt?

Auch wenn Boris Johnson gerne mit einem harten Brexit droht: Die Analyse zeigt, dass selbst bei dieser Option einige Hürden zu nehmen sind. Solange das Unterhaus mehrheitlich gegen ein ungeregeltes Ausscheiden aus der EU ist, wird sich Johnson ebenso die Zähne ausbeissen wie seine Vorgängerin. Grundsätzlich bleiben damit die Handlungsoption die gleichen. Von den genannten Möglichkeiten erscheinen uns eine Anpassung des Austrittsabkommens, Neuwahlen oder ein neuerliches Referendum als die wahrscheinlichsten Szenarien.


Britisches Pfund unter Druck

Seit Mai hat die britische Valuta mehr als 8 % gegenüber dem US-Dollar eingebüsst. Knapp in gleicher Grössenordnung belaufen sich die Kursverluste gegenüber dem Euro. Der Grund für die Abwertung ist leicht zu finden: Zunächst belastete die Aussicht auf Premierminister Johnson als neuen britischen Premierminister, später dann die Bestätigung und schliesslich die folgende scharfe Rhetorik aus der Downing Street. Die Devisenmärkte spiegeln im schwächeren Pfund die gestiegene Wahrscheinlichkeit für einen harten Brexit und das dadurch einhergehende Risiko einer schweren Rezession. Die VP Bank erachtet aber weiterhin einen weichen Brexit als das wahrscheinlichste Szenario. In diesem Falle würde das Pfund deutlich gegenüber den Hauptwährungen aufwerten. In Anbetracht möglicher Kehrtwendungen bleibt der Austrittsprozess aber letztlich nicht prognostizierbar.

 

Fazit

Unsere Analyse zeigt, dass der von Boris Johnson angedrohte harte Brexit nur schwer umsetzbar ist. Es fehlt dem Premierminister schlicht die parlamentarische Mehrheit. Das britische Unterhaus hat sich bereits mehrmals erfolgreich gegen einen harten Bruch mit der EU gewehrt. Dem neuen Regierungschef wird es vermutlich nicht anders ergehen wie seiner Vorgängerin. Damit bleibt ein weicher Brexit nach wie vor ein realistisches Szenario. Das britische Pfund hätte dann erhebliches Aufwertungspotenzial. Da die Situation verworren bleibt, sollten Pfund-Anleger jedoch ihre Verlusttragfähigkeit im Falle eines harten Brexit überprüfen.

Verantwortlich für den Inhalt
Bernd Hartmann, Leiter CIO Office
Autor: Dr. Thomas Gitzel, Chefvolkswirt


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